„Superschuhe“ – ein Begriff, der in der Laufbranche seit Jahren die Runde macht. Was auf der Straße begann, hat mittlerweile auch die Trails erreicht. Vor ein paar Jahren sorgte The North Face (TNF) für Aufsehen, als sie als einer der ersten Hersteller eine Carbonplatte in einen Trailschuh integrierten. Ich erinnere mich noch gut daran, wie kontrovers dieses Thema diskutiert wurde. Viele waren der Meinung, dass diese Technologie auf den Trails schlichtweg nicht funktionieren könne. Doch der Markt hat sich rasant weiterentwickelt, und mittlerweile haben zahlreiche Hersteller ihre Spitzenmodelle mit einer Platte ausgestattet.
Mit dem Vectiv Pro 2 bringt TNF den offiziellen Nachfolger ihrer bahnbrechenden Innovation auf den Markt. Da dies mein erster Vectiv Pro ist, fehlt mir der direkte Vergleich zum Vorgängermodell, was die Spannung umso größer macht. Besonders interessant: Das globale Athleten-Team von TNF war intensiv in die Entwicklung eingebunden und konnte wertvolle Praxiserfahrungen einbringen. Wenn Profis mit diesem Schuh beim UTMB antreten, sollte doch einiges an Leistung und Qualität dahinterstecken, oder?
Zeit, den Vectiv Pro 2 im Detail unter die Lupe zu nehmen und zu schauen, was er auf den Trails wirklich kann.
ERSTER EINDRUCK / PASSFORM
Der erste Blick fällt direkt auf die Konstruktion des Schuhs: Er wirkt robust und gut verarbeitet. Das Obermaterial macht einen strapazierfähigen Eindruck, während die weiche Außensohle in Kombination mit einer eher flachen Stollentiefe von 3,5 mm auf schnelle, weniger matschige Trails ausgelegt ist. Auffällig ist zudem die stark hochgezogene Frontpartie – ein Design, das weniger an einen natürlichen Laufstil erinnert, sondern vielmehr darauf abzielt, maximale Effizienz und Geschwindigkeit bei Rennen herauszuholen. Dieser Schuh hat ein Ziel – Geschwindigkeit!
In den Schuhen ist eine VECTIV 2.0 Karbonfaserplatte verbaut, die für Stabilität sorgt und gleichzeitig die Energierückfuhr unterstützen soll. Diese Technologie zielt darauf ab, die Effizienz des Laufstils zu verbessern, besonders bei langen Distanzen oder anspruchsvollen Anstiegen.
Für die Dämpfung kommt der neue DREAM-Schaumstoff (glaubt mir, der Name ist Programm) zum Einsatz. Dieser bietet eine hohe Federung und sorgt für ein angenehmes Laufgefühl, indem er die Aufprallkräfte rundum effektiv abfedert.
Ein Detail, das sofort ins Auge fällt, sind die geriffelten Schnürsenkel – ein typisches Merkmal bei TNF-Schuhen. Diese spezielle Struktur hat einen klaren Vorteil: Sie verhindern, dass sich die Schnürsenkel während des Laufens ungewollt lösen. Ein Problem, das bei den klassischen, glatten Schnürsenkeln durchaus mal vorkommen kann.
Der Schuh verfügt über eine hauchdünne Zunge, die nahtlos in eine sockenähnliche Konstruktion integriert ist. Diese Bauweise hat gleich zwei Vorteile: Zum einen bietet sie einen sicheren und stabilen Halt im Mittelfußbereich, zum anderen verhindert sie effektiv, dass Schmutz und kleine Steinchen ins Innere des Schuhs gelangen. Die dünne Zunge macht jedoch keine spürbaren Abstriche beim Komfort. Jedoch die Länge der Zunge – nach meinem Geschmack etwas zu kurz. Es reicht gerade, die Schnürsenkel noch bündig drauf zu schnürren.
Im Vorfußbereich sind die Schuhe ausreichend breit genug, die Zehen haben genügend Platz auch bei längeren Läufen! Am Mittelfuß und der Ferse hat man ebenfalls einen guten Fit, nichts rutscht und zwickt. Auch der Fersenbereich ist optimal gestaltet.
Die Referenzgröße bringt 277g auf die Waage, in meiner Größe (EU46,5) kommen 308g zusammen. Trotz des des massiven Unterbaus fühlen sich die Schuhe sowohl in der Hand, als auch am Fuß federleicht an.
GRIP / PROTEKTION
Mit der Außensohle (einer optimierten Version der hauseigenen SURFACE CTRL Sohle) und der Stollentiefe, darf man bei schlechteren Witterungsbedingungen (starke Regenfälle, tiefer Matschboden, rutschige Untergründe) keine hohe Erwartungen haben. Dann sollte ehrlicherweise zu passenderen Schuhen für gegriffen werden. Sind die Bedingungen gut performen die Vectiv Pro, egal auf welchem Untergrund. Ich hatte sie leider – während des Testzeitraums – bei keinem Wettkampf im Einsatz, jedoch auf den unterschiedlichsten Untergründen hier in den Alpen und sie konnten mich durchaus überzeugen.
LAUFEIGENSCHAFTEN
Schon beim ersten Hineinschlüpfen in den Schuh fühlt sich der Vectiv Pro 2 ungewöhnlich an – als würde man auf einem halb aufgeblasenen Luftballon stehen. Weich, federnd und etwas instabil. Ein spezielles Gefühl, das zunächst gewöhnungsbedürftig ist. Doch kaum setzt man die ersten Schritte, wandelt sich dieser Eindruck schnell: Die Kombination aus Dämpfung und Energierückgabe sorgt für ein beeindruckendes Laufgefühl. Das „Bouncing“-Gefühl bleibt zwar präsent, aber es entwickelt sich zu einer echten Stärke. Der Komfort ist spürbar, ohne dass die Schuhe an Vorwärtsdrang verlieren.
Egal ob flache Passagen, technische Trails, Uphill oder Downhill – der Schuh rollt einfach. Man spürt den Vorwärtsdrang und kann ordentlich Tempo machen. Selbst auf Asphalt machen die Schuhe überraschend viel Spaß (wobei ich für die Lebensdauer der Außensohle auf hartem Untergrund keine Garantie übernehmen würde). Doch dort, wo sie wirklich hingehören – abseits der Straßen – können sie richtig Gas geben.
EINSATZGEBIET
Auf Schotterwegen, im Wald oder generell auf laufbaren flowigen Trails zeigt der Schuh, was er kann: Lauffreude pur, mit einer klaren Einladung, das Gaspedal durchzutreten. Wenn die Trails technischer werden, muss man genau überlegen, ob der Vectiv Pro 2 der richtige Schuh ist. In trockenem, alpinem Gelände schlägt er sich solide, bietet guten Vortrieb und ausreichend Stabilität. Doch sobald die Bedingungen schwieriger werden, stößt der Schuh an seine Grenzen: Auf matschigen und/oder tiefen Böden fehlt es der Außensohle an Grip, und auch auf feuchten, technischen Passagen – wie nassen Wurzeln oder glitschigen Steinen – gerät der Schuh schnell ins Straucheln. Hier wäre etwas mehr Traktion wünschenswert, um auch bei anspruchsvollen Bedingungen voll vertrauen zu können. Doch je tiefer die Stollen, je mehr einbußen bei der Performance.
Trotz seiner Schwächen bei schwierigen Bedingungen bieten die Vectiv Pro 2 eine beeindruckende Vielseitigkeit, besonders wenn es um die Distanz geht. Der Komfort ist auf Ultratrails ausgelegt und macht lange Läufe durch die Kombination aus Dämpfung und Stabilität angenehm. Gleichzeitig punkten die Schuhe auch auf kürzeren Strecken, wo sie durch ihre Federung und den Vorwärtsdrang einfach Spaß machen. Egal ob schnelle Einheiten oder lange Abenteuer – der Vectiv Pro 2 schafft den Spagat und liefert auf verschiedenen Distanzen eine solide Performance.
FAZIT
Der Vectiv Pro 2 ist ein reinrassiger Wettkampfschuh, der besonders auf langen Trails seine Stärken ausspielt. Auch wenn ich die Schuhe in meiner aktuellen Trainingsphase nicht auf echten Ultra-Distanzen testen konnte, haben sie mich auf den Trails absolut begeistert.
Warum? Die Kombination aus Leichtigkeit, Vorwärtsdrang und hohem Komfort ist spannend und überzeugt bereits ab dem ersten Lauf. Auch wenn sich der erste Moment – fast wie auf einem Ballon – ungewohnt anfühlt, wird jeder Schritt zur Wohltat, sobald man sich daran gewöhnt hat.
Achtung an „schwerere“ Downhill-Fersenläufer – man spürt die Platten beim Auftreten – jedoch nicht auf angenehme Art!
Kurz gesagt: Der Vectiv Pro 2 ist ein High-End Schuh – vollgepackt mit Wissenschaft und Technik, die das Maximum an Performance herausholen. Doch eins bleibt sicher: Laufen müsst ihr noch selbst! 😉
Anmerkung: Die Schuhe wurden mir vom Hersteller für diesen Test zur Verfügung gestellt. Dies hat jedoch keine Auswirkung auf das Testergebnis. Der Artikel wurde von mir frei verfasst und obliegt keiner Zensur oder Korrektur von Dritten.